Dradora

Kapitel 64

Das Tunnelmädchen hielt in jedem ihrer Händchen einen Eimer fest umklammert. Im endlosen Strom der Träger schritt sie der Übergabestelle am Ende der Sektion entgegen – schneller und sicherer als andere Kinder ihres Alters.

Linni würde keinen Tropfen verschütten. Niemals einen Eimer fallen lassen – nicht nach all den Händen, durch die er gewandert war, von Sektion zu Sektion, von Übergabestelle zu Übergabestelle. Eines Tages würden die Meister ihren Eifer bemerken. Ihre Gründlichkeit. Und sie in die nächste Sektion befördern – dem großen Licht entgegen.

Nach dem Tod ihrer Schwestern hatte Linni sich geschworen: Sie würde sich niemals mit dem Lebenszweck der anderen Mädchen zufriedengeben – ein Kind gebären innerhalb jener kurzen Zeitspanne, in der ihr Körper dazu imstande wäre.

Nein. Linni wollte mehr. Und sie würde es schaffen.

Irgendwann würde sie die erste Sektion erreichen. Sie würde bis zur letzten Übergabestelle vordringen – bis dorthin, wo der Tunnel endete und das Paradies begann.

Damals hatte Luv nur gelacht, als sie ihm davon erzählt hatte. Er hatte gesagt, es würde viele Generationen dauern, um bis zur ersten Sektion vorzudringen.

Doch in dieser Angelegenheit wollte Linni ihrem Bruder nicht vertrauen.

Luv war sogar der Meinung, dass man das Licht in entgegengesetzter Richtung schneller erreichte – dort, wo Wasser und Brot im Dunkel verschwanden und von wo Gestein, Abfall und Kadaver herbeigeschafft wurden. Ihm war zu Ohren gekommen, dass die jüngsten Sektionen des Tunnels ausschließlich nach oben führten. Und er hatte daraus geschlossen, dass die Graber bald die Wand zum Paradies durchbrechen würden.

Linni hatte die Übergabestelle erreicht. Sie stellte den Unrat ab.

Zwei neue Eimer standen für den Transport bereit – gefüllt mit klarem Trinkwasser.

Sie hob sie auf und trat den Rückweg auf der anderen Seite der Tunnelwand an.

Gleich würde sie am mächtigen Tor aus Emaridianstahl vorbeikommen, hinter dem das blaue Salz der Götter geschürft wurde.

Im Strom der Träger hielt sie Ausschau nach ihrem Bruder. Wenn sie Glück hatte, würde Luv ihr entgegenkommen. Vielleicht genau dann, wenn das Rastsignal ertönte.

Dann würden alle Träger ihre Eimer abstellen und für eine kurze Weile rasten.

Dort hinten bog er auch schon um die Ecke. Er hatte sie gesehen und lächelte ihr zu.

Sie beide waren eine Familie. Und Linni wünschte sich, gemeinsam mit Luv das große Licht zu erblicken.

Hastig schickte sie den Göttern ein Stoßgebet entgegen und bat darum, das Rastsignal ertönen zu lassen.

Doch sie wurde nicht erhört.

Wenn sie in wenigen Augenblicken an Luv vorbeizog, würde sie ihm wenigstens einen Kuss durch die Luft schicken.

Plötzlich stieß sie gegen den vor ihr laufenden Träger.

Er war einfach stehen geblieben. Und das war verboten.

Linni erschrak.

Sie hatte Wasser verschüttet.

Nicht viel – aber genug, um bestraft zu werden, wenn ein Meister es gesehen hätte.

Aber … was geschieht hier?

Weshalb halten die anderen ebenfalls an?

Verwundert sah sie sich um.

Zuerst war es nur ein seichter Luftzug, der ihre Wangen streifte. Doch er schwoll rasch zu einem Wind an, der an ihren Haaren zerrte.

Erschrocken ließ sie die Eimer fallen und starrte entsetzt auf die Pfütze, die sich über den Stein ausbreitete.

Mitten im anschwellenden Geschrei hörte sie Luv rufen.

Er stürzte ihr entgegen und ergriff ihre Hand.

Gemeinsam suchten sie Schutz in der Nische, in der das Tor aus Emaridianstahl eingelassen war.

Sie klammerte sich an ihren Bruder, drückte sich ans kalte Metall, schloss die Augen und wartete darauf, dass das Unheil vorüberzog.

Doch das tat es nicht.

Linni spürte die Helligkeit selbst durch ihre geschlossenen Lider. Sie blinzelte um die Ecke der Nische – und erblickte die Lichtgestalt.

Es musste ein Engel sein. Denn er kam aus dem Paradies.

Er raste durch den Tunnel und verbrannte alles, was sich ihm in den Weg stellte.

Eimer, Nahrung, Abfall, Träger.

Die Menschen lösten sich auf. Verdampften.

So wie Linnis Tränen – getrocknet, bevor sie die zitternden Wangen hinabkullern konnten.

Ihre Kleidung brannte. Ihre Haare standen in Flammen.

Die Hitze drang tief in ihre Lungen ein, versengte ihr Inneres, verbrannte ihre Träume.

Als der Engel sie erreichte, verlosch ihr letzter Gedanke.

Sie hatte das große Licht gesehen.

Das Paradies war zu ihr gekommen.

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