Dradora

Kapitel 1

Cord schlich ohne behördliche Genehmigung aus dem Haus.

Er war entschlossen, das gestohlene Messer zurückzuholen – ein Erbstück seines Vaters.

Eine Schneeflocke setzte sich auf seine Wimpern, während er den sternenlosen Abendhimmel nach Drohnenschatten absuchte. Innerlich zählte er die Sekunden.

Nichts.

Nur das pulsierende rote Leuchten der Antennenmasten rings um Festung Anburg inmitten der Stadt. In den alten Mauern feierte an diesem Abend die Obrigkeit und ließ sich von Cords Mutter bedienen. Vor ihrer Rückkehr musste die Angelegenheit mit Elrik Hennemann geklärt sein, dessen Intrigen ihn schon lange quälten.

Cord zog die graue Kapuze tief ins Gesicht. Keiner durfte ihn auf dem Weg zum Treffpunkt erkennen – das wäre das Ende.

Unter seinen Stiefeln knirschte der Neuschnee. Die Ausgangssperre hatte die Stadt in eine Geisterwelt verwandelt.

Er suchte nach dem verräterischen Blinken und dem Surren der Drohnen, die sich wie Jäger im Schneegestöber versteckten.

Einen Häuserblock weiter bewegte sich ein Schatten um die Ecke. Ein Spaziergänger im langen Mantel und mit hohem Hut. Neben ihm schritt ein Hund, der dem Mann bis zur Hüfte reichte.

Cord sprang in eine Hauseinfahrt, duckte sich hinter stinkende Mülltonnen und presste angewidert die Hand vor den Mund.

Still lauschte er den Schritten des Fremden.

Gegenüber der Straße hing ein beleuchtetes Plakat, das ihm auf dem Schulweg nicht aufgefallen war. Überlebensgroß zeigte es Bürgermeister Graf Wundertal. Auf dem Foto hatte ihn die Krankheit noch nicht gezeichnet, und doch war sein Gesicht von einer Kälte durchzogen, die Cord daran erinnerte, wozu diese Welt fähig war – und was sie von ihm erwartete: Gehorsam.

Im Hintergrund hakten sich Verwaltungsfunktionäre unter und bildeten eine geschlossene Reihe. Darunter die Botschaft: Wir stehen zusammen. Für Freiheit.

Über das Gesicht des Grafen hatte jemand einen Schafkopf gemalt und eine Nachricht hinterlassen: Im Streben nach Freiheit schmieden die Menschen Ketten, mit denen sie sich selbst und andere fesseln.

Diese Worte schnürten Cord die Kehle zu, denn sie erinnerten ihn an jenen Morgen, an dem sein Vater ihn zum Abschied inniger und einen Moment länger gedrückt hatte. „Mein Junge, Menschen streben nach Freiheit und landen in Gefängnissen, die sie selbst errichten. Lass dich nicht einsperren. Folge deinem Herzen und deinem Stern.“

Cord senkte den Kopf und lauschte dem Echo der Worte und dem Klang der vertrauten Stimme. Er blinzelte die Feuchtigkeit fort und lugte über die Mülltonnen hinweg.

Die Straße war leer.

Er atmete tief durch, richtete sich auf und setzte seinen Weg fort – bereit, dem Rat seines Vaters zu folgen.

Nach einer Biegung tauchte das zerfallene Wagner-Haus auf, der Treffpunkt. Das Gebäude war das letzte in der Bebauung und ragte wie ein verwittertes Skelett aus dem Schnee, die Fensterhöhlen leer und schwarz wie Augen, die alles beobachteten. Hier endete die Stadt und es öffnete sich der Wald, der sich wie eine finstere Wand hinter einem Schleier aus Schneeflocken abzeichnete – und darauf wartete, ihn zu verschlingen. Ohne Walters Taschenlampen gab es keine Möglichkeit, den Weg zu finden und rechtzeitig zurückzukehren.

Ob Walter und Arnold schon warten? Würden sie überhaupt kommen?

Cord stellte sich vor, wie er nach einer Weile vergeblichen Wartens umkehrte und die Wohnungstür mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung hinter sich zuzog. Elrik würde ihn zwar aufziehen und verspotten, doch Cord hätte sich an die Regeln gehalten – zumindest die Stadt nicht verlassen.

Der Fremde mit dem Hund war wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Für einen Moment setzte Cord an, die Straßenseite zu wechseln. Doch er zwang sich, auf dem Weg zu bleiben, näherte sich dem anderen – und erkannte die Farbe dessen Lodenmantels. Dunkelgrün war denen vorbehalten, die eine hohe Reputation besaßen.

Auf ein Handzeichen schob sich der Dobermann zwischen Cord und seinen Herren.

Dieser Kerl muss ein Pirscher sein!

Der Mann blieb stehen, sein Blick bohrte sich in Cord, als wolle er jeden Gedanken aus ihm herauslesen.

Cord war klar, dass nicht nur ihm, sondern auch seiner Mutter die Reputation drastisch gestrichen würde, falls ein Pirscher ihn erwischte.

Ihm blieb nur eine Möglichkeit.

Zielstrebig schritt er auf den Fremden zu und kurz bevor dieser das Wort ergriff, grüßte Cord: „Guten Abend, der Herr. Sie haben einen erstaunlich folgsamen Hund.“

Er marschierte an beiden vorbei und hörte, wie sich der Mann nach ihm umdrehte. Cord erwartete jeden Augenblick dessen Aufforderung, stehen zu bleiben. Doch solange dies nicht geschah, schritt er geschäftig weiter, um zu demonstrieren, dass er das Recht und die Pflicht hatte, trotz Sperrstunde unterwegs zu sein.

Erst kurz vor Erreichen des Treffpunkts wagte er es, zurückzuschauen.

Die Straße war leer, der Fremde und der Dobermann waren weitergezogen.

Cord atmete auf, doch die Gefahr blieb. Ein Pirscher, ausgerechnet jetzt und hier, konnte sein Schicksal besiegeln.

Das Wagner-Haus war bis auf die Mauern abgebrannt.

Cord hatte den Jungen gekannt, der hier gewohnt hatte. Michael Wagner besuchte die Abschlussklasse in Cords erstem Jahr am Gymnasium. Er hatte sich schon früh dem Widerstand angeschlossen. Nach seiner Verhaftung verbrachte er zwei Jahre in Untersuchungshaft, bevor man ihn tot in einer Zelle fand. Seine Eltern ertrugen den Verlust nicht und verbrannten sich im Zimmer ihres Sohnes. Für den Tod des Jungen zog die Polizei einen Mithäftling zur Verantwortung. Doch Cords Vater zweifelte an dieser Version, und vermutete stattdessen den wahren Täter innerhalb der Polizei.

Cord schloss die Augen, und Michaels Lachen auf dem Schulhof hallte in seiner Erinnerung nach.

Und jetzt ist nichts mehr von ihm übrig.

Mit zugeschnürter Kehle trat Cord ins Haus.

Der bittere Brandgeruch hing noch immer in der Luft.

„Arnie? Walter?“, flüsterte er.

Nichts. Nur Stille.

Etwas Kleines und Glitschiges huschte über seinen Schuh.

Reflexartig trat er zurück, doch das Rascheln aus den Schatten blieb.

Die Kakerlaken hatten Anburg übernommen.

Cord hasste sie.

Mit geschlossenen Augen lauschte er in die Dunkelheit. Die Stille schärfte seine Sinne.

Im abgestandenen Brandmoder hing ein frischer Schwelgeruch.

Jemand musste hier gewesen sein.

Oder war noch hier.

Cord tastete sich durch den Flur.

Links die Küche. Das Spülbecken hing schief an der Wand, Töpfe und zerbrochene Teller lagen verstreut in den Trümmern.

Rechts der leere Türrahmen zur Abstellkammer.

Dunkel. Pechschwarz.

Von dorther drang der Geruch.

Cord fluchte. Hätte Walter nur wie versprochen die Taschenlampen gebracht. Dessen Vater arbeitete in der Stadtverwaltung und hatte Zugang zu Gütern, die anderen Bürgern vorenthalten waren.

Er wandte den Blick von der Kammer ab – da glomm etwas im Augenwinkel.

Sofort fuhr er zurück. Starrte in die Dunkelheit.

Nichts.

Doch kaum drehte er den Kopf, schob es sich wieder in sein Sichtfeld.

Zwei nebeneinander schwebende rote Flecken.

Wie gebannt starrte er auf die glühenden Augen.

Etwas raschelte in der Kammer.

Ein Kichern – das sich zu einem Gackern steigerte und in einem Hustenanfall endete.

„Arnie, du verdammter Idiot“, zischte Cord. „Du hast mich zu Tode erschreckt.“

Arnold stolperte lachend aus der Abstellkammer und hielt in jeder Hand eine Zigarette. „Kumpel, du hättest dich sehen sollen. Dein Blick …“

Der nächste Lachhustenanfall unterbrach ihn.

„Was zum Teufel rauchst du da?“

Arnold steckte sich beide Kippen in den Mund, die eine rechts und die andere links, zog daran, bis die Glut seine Wangen in dämonischem Rot erstrahlen ließ, und blies Cord den süßlichen Qualm ins Gesicht.

„Das ist widerlich.“ Cord wandte sich ab.

„Von wegen, die Rezeptur wird auf dem Schwarzmarkt einschlagen. Wenn ich genügend zusammen hab, beschaff ich mir ein Ausreisevisum und bin raus hier.“

„Du wirst an der Pilzmischung krepieren oder im Knast landen.“

Arnold inhalierte einen tiefen Zug und blies den Qualm aus seinen Nasenlöchern. „Mag sein. Aber dein Motto, nirgends anzuecken, ist nichts für mich.“

„Es lebt sich ruhiger.“

„Pah“, entgegnete Arnold. „Dann lebt es sich überhaupt nicht. Sieh sie dir doch an, diese dummgezüchtete Herde, unfähig selbst zu denken, Schlüsse und Konsequenzen zu ziehen, Verantwortung fürs eigene Leben zu übernehmen. Du willst dich doch nicht wirklich dort einreihen. Dein Vater zumindest tat es nicht.“

Die Anspielung hatte gesessen.

Cord widerstand dem Impuls, Arnold die Zigaretten aus dem Mund zu schlagen.

Er atmete tief durch. „Ohne sein Anecken bräuchte meine Mutter nicht das Geschirr des Grafen spülen.“ Seine Stimme klang kräftiger, als ihm zumute war.

Arnold lachte. „Auch wenn du es dir nicht eingestehst, weißt du, dass dein Vater richtig gehandelt hat.“ Er zog an der Zigarette. „Ansonsten wärst du nicht so scharf darauf, das Messer zurückzuholen. Und du wirst es wieder bekommen. Verlass dich auf mich. Ich kann es kaum erwarten, dem Hennemann aufs Maul zu hauen und ihn vor uns den Schultanz aufführen zu lassen.“

Cord biss sich auf die Lippe, denn sein Freund hatte recht. Er bereute es, diesen kostbaren, verbotenen Gegenstand in den Werkunterricht mitgenommen zu haben, und nicht ein wertloses, zugelassenes Plastikmesser. Und warum hatte er sich auf dem Pausenhof vom Hennemann aus der Abschlussklasse das Taschenmesser abnehmen lassen?

Mit einem abfälligen Grinsen war der Schläger angeschlendert, die Hände tänzelten wie zwei krakeelende Spinnenbeine durch die Luft.

„Na, du kleine Primaballerina, willst du etwa mit dem Messerchen tanzen? Zeig mir doch mal das kostbare Stück!“ Sein Gekicher ging in einem Prusten unter, als er mit ausgeholten Beinbewegungen einen überzogenen Tanzschritt andeutete.

Cord verdrehte die Augen. Nicht schon wieder diese alten Kamellen! Seit jenem unrühmlichen Auftritt beim Schulfest im ersten Jahr vergingen kaum Begegnungen, ohne dass Hennemann sie mit den lächerlich nachgeäfften Tanzfiguren aufzog.

Mit einer Vollrotation auf den Fersen drehte sich der Sprücheklopfer grazil im Kreis, ließ blitzschnell seinen Arm vorschnellen und riss Cord das Taschenmesser aus der Hand.

„Gefahr gebannt, Messer raus aus Kükenhand!“, krähte er, wackelte gönnerhaft mit dem Hintern davon und ließ Cord mit rotem Kopf zurück, beobachtet von der halben Klasse.

„Also schön.“ Arnold warf die Zigaretten auf den Boden und trat sie aus. „Wo bleiben die Taschenlampen?“

Cord linste durchs eingeschlagene Fenster auf die Straße: „Walter wird gleich kommen.“

„Dazu hat der nicht den Mumm. Wenn er all seinen Mut zusammennimmt, liefert er die Lampen ab. In den Wald wird er uns niemals folgen.“

Gleich neben dem Haus mündete die asphaltierte Straße in den unbefestigten Weg, der sich in den schneeverhangenen Umrissen der Bäume verlor.

Cord seufzte. „Nur der verrückte Elrik Hennemann kommt auf die idiotische Idee, sich in einer Winternacht ohne Erlaubnis im Wald rumzudrücken.“

Arnold stieß ihm in die Seite. „Da vorne kommt jemand.“

Cord erkannte Walters gelbe Jacke. Im Gegensatz zu Arnold und Cord war es ihm gestattet, diese Farbe zu tragen. Seine Eltern waren Stadtbedienstete und seine Mutter soll bereits mit dem Mercatoriat telefoniert haben.

„Geht es noch auffälliger?“, zischte Arnold. „Muss der Trottel seine reflektierende gelbe Jacke anziehen? Wenn uns jemand sucht, scheint der wie ein Leuchtturm.“

Walter hastete mit einem Beutel über der Schulter ins Haus.

„Hast du auf dem Weg einen Schneemann gebaut?“, fragte Arnold. „Du bist unpünktlich.“

„Tut mir leid, Leute. Ich musste warten. An der Kreuzung stand einer mit Hund. Der ist ewig nicht weggegangen.“

Cord spürte ein Ziehen im Magen. „Ein Mann mit Lodenmantel, Hut und Dobermann?“

„Du hast ihn auch gesehen?“

Cord nickte. „Vielleicht ein Pirscher.“

Walter erstarrte. „Verdammt. Du meinst … er hat’s auf uns abgesehen?“

„Entspannt euch, Jungs.“ Arnold schnappte sich Walters Beutel. „Lass mal sehen.“

Er zog daraus eine schwere Taschenlampe hervor.

„Na, das nenne ich mal einen Prügel.“ Er wiegte die Lampe in der Hand. „Dem Hennemann wird das nicht gefallen.“

„Sei still“, zischte Cord und deutete mit dem Kopf nach draußen. „Und lass bloß das Licht aus.“

„Jungs, macht euch doch nicht in die Hose.“ Arnold schüttelte grinsend den Kopf.

„Du hättest den Hund sehen sollen“, sagte Walter. „Der ist eine Waffe.“

„Dann greift zu euren Waffen.“ Arnold reichte Cord und Walter jeweils eine Taschenlampe. „Wir warten zehn Minuten, bis das Hündchen in seinem Körbchen liegt. Dann brechen wir auf.“

Cords Herz setzte einen Schlag aus, als er die tiefe Stimme aus dem Wohnzimmer hörte. Langsam drehte er sich um.

Der Pirscher lehnte lässig im Türrahmen, die Hände in den Taschen. „Das Hündchen möchte aber noch nicht ins Körbchen.“

„Raus hier!“ Arnold sprang mit einem weiten Satz aus dem Haus – und landete vor dem knurrenden Dobermann.

„Einfach nicht bewegen. Dann wird er nicht beißen“, sagte der Pirscher. Er trat einen Schritt auf Cord zu. „Du weißt ja, er ist ein erstaunlich folgsamer Hund.“ Er schnippte mit den Fingern. Sofort versperrte der Dobermann Arnold den Weg und knurrte tief. Seine gefletschten Zähne glänzten im Schein einer Straßenlaterne.

„Worauf wartet ihr? Raus mit euch beiden zu eurem Komplizen.“

Es ist vorbei!

Cords Magen verkrampfte und ein feiner Schleier aus Angst und Kälte kroch über seinen Rücken. Gemeinsam mit Walter trat er entmutigt aus dem Haus und stellte sich neben Arnold.

„Geduld zahlt sich aus, meine Freunde. Ich bin gespannt, wie viel Reputation ihr mir einbringen werdet. Drei Sperrstundenverstöße sind besser als nichts. Aber wer sich hier rumtreibt, hat sicher noch mehr ausgefressen.“

Walters Stimme zitterte: „Bitte melden Sie uns nicht. Lassen Sie uns nach Hause gehen. Wir haben nichts verbrochen.“

„Aha, dann besitzt ihr also Ausgangsgenehmigungen?“

Walter senkte den Blick.

„Wusste ich doch.“ Der Pirscher grinste zufrieden. „Und die Taschenlampen? Was hattet ihr damit vor? Woher habt ihr die überhaupt? Die sind sicherlich gestohlen.“

„Sind sie nicht“, entgegnete Arnold, „aber Sie können die Taschenlampen haben, wenn Sie uns in Ruhe lassen.“

„Oha. Du versuchst, mich zu bestechen?“ Der Pirscher pfiff durch die Zähne. „Erweist sich dieser frostklirrende Abend als mein Glückstag? Ihr müsst wissen, dass mir nicht mehr viel Reputation für einen Kuraufenthalt fehlt. Das reicht zwar nicht für Meer und Palmen, das wird niemand mehr von uns sehen. Aber was gäbe ich alles für ein paar Tage außerhalb dieser beschissenen Stadt. Für den Anblick einer prächtigen Sternennacht. Oh ja …“

Er holte ein Smartphone aus dem Mantel und fotografierte die Drei.

„Jungs, das war’s. Hat mich gefreut. Wir warten zusammen auf das Dröhnchen und dann bringe ich das Hündchen ins Körbchen.“ Er kicherte über seinen Wortwitz, zündete eine Zigarette an und inhalierte tief. Den Kopf in den Nacken gelehnt, blies er eine Rauchwolke nach oben.

„Ihr versteht das nicht, oder?“ Nachdenklich musterte er seinen Fang. „Für euch sind ein paar Sterne nur ein Gedanke. Für mich sind sie ein Versprechen – ein Moment, in dem ich nicht hier bin, in dieser kalten, nebligen Hölle.“

Walter schluchzte. Sein Körper bebte, und er versuchte vergeblich, die Tränen zurückzuhalten.

Cord legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich werde ihnen sagen, dass ich Schuld daran bin.“

Walter schüttelte den Kopf. „Bist du aber nicht.“ Seine Stimme zitterte.

Der Pirscher grinste Walter an. „Lass das Flennen, Junge. Es gibt Schlimmeres als das. Sieh es mal so“, er zog kräftig an der Zigarette. „Wer weiß, wovor ich euch bewahrt habe. Ihr wisst, was geschehen kann.“

„Was denn? Etwa, dass uns eine Schneeflocke auf den Kopf fällt?“, fragte Arnold.

„Das weißt du genau, Kleiner.“

„Sollen wir uns für den Rest unseres Lebens zu Hause einsperren, weil irgendwann mal ein Mädchen verschwunden ist?“

„Es war nicht der einzige Fall, Junge.“

„Aber der Letzte. Und der liegt Jahre zurück.“ Arnold presste die Lippen zusammen und vergrub seine Fäuste in den Jackentaschen.

„Es ist seitdem nichts mehr geschehen, weil die Stadt euch beschützt. Durch Regeln, die eingehalten werden müssen. So einfach ist das.“

Arnold drehte sich weg, die Kiefer fest aufeinandergepresst. „Blödsinn“, fauchte er. Seine Hände bebten in den Taschen.

„Ich kenne die Mutter des Mädchens.“ Der Pirscher blies eine weitere Rauchwolke in die Luft. „Die alte Roth wartet noch immer jeden Abend an der Haustür darauf, dass ihre Tochter von der Schule kommt. Sie hat den Verstand verloren. Wenn sie ihren Mann nicht hätte, würde sie an der Tür Wurzeln schlagen.“

„Um das Mädchen und ihre Familie tut es mir leid“, sagte Cord, „aber das gibt niemandem das Recht, die Bürger wie Gefangene zu behandeln.“

Der Pirscher zog ein letztes Mal an der Zigarette und schnippte die Kippe auf den Boden. „Ich habe die Verordnungen nicht erlassen, Kleiner. Aber ich weiß, dass sie vielen Bürgern Halt und Ordnung geben. Irgendwann wirst du das verstehen.“

„Halt und Ordnung?“, höhnte Arnold. „Vielleicht für Leute wie dich. Für uns sind es Ketten.“

Der Pirscher bäumte sich vor Arnold auf.

„Weißt du was, Kleiner?“ Seine Stimme wurde gefährlich leise. „Dein loses Mundwerk wird dir noch richtig Ärger einbringen.“

Cord sah, wie sich die Muskeln in Arnolds Kiefer spannten.

„Arnold, nicht“, warnte Cord leise und griff nach dem Arm seines Freundes.

Doch Arnold schüttelte seine Hand ab.

Der Pirscher grinste gönnerhaft. „Hör auf deinen Freund, Kleiner. Sonst verbringst du die nächsten Monate in einer Zelle, während ich mir am Kurort die Sonne auf den Bauch scheinen lasse.“

Arnold setzte zu einer Erwiderung an.

Da durchschnitt ein gleißender Lichtstrahl die Nacht. Drei Drohnen schwebten wie Raubvögel über ihnen und ihre dröhnenden Rotoren ließen den Schnee aufwirbeln.

„STILLGESTANDEN. BLICK ZUR KAMERA. AUGEN WEIT ÖFFNEN.“

Die metallische Stimme hallte von den Hauswänden wider. Sie klang, als würde sie aus einer anderen Welt kommen. Die Drohnen durchbrachen den wirbelnden Schnee und tauchten die Szene in gleißendes Licht.

Der Mund des Pirschers verzog sich zu einem breiten Grinsen, als das Smartphone das Eintreffen einer Nachricht signalisierte.

„Das war’s für mich, Jungs.“ Er tippte sich an den Hut. „War mir eine Freude. Bis bald mal wieder.“

Mit einem zufriedenen Pfeifen gab er dem Dobermann ein Handzeichen.

Cord sah den beiden nach, wie sie die Straße hinunter trotteten. Dann senkte er mutlos den Blick.

Erneut tönten die Drohnen:

„WEGEN VERSTOSS GEGEN AUFENTHALTSVERORDNUNG PARAGRAPH ACHT ABSATZ EINS SATZ FÜNF, HABEN SICH DIE BÜRGERANWÄRTER ARNOLD LOWE, CORD RAMBERGER, WALTER SENKEISEN INNERHALB VON ZWANZIG MINUTEN BEIM AMT FÜR ORDNUNG UND BÜRGERSCHUTZ ZUR VERNEHMUNG AM HAUPTTOR EINZUFINDEN. VERSTÖSSE GEGEN DIESE ANORDNUNG WERDEN MIT REPUTATIONSANPASSUNGEN GEAHNDET.“

Mit einem Surren schossen die Drohnen davon.

Arnold verdrehte die Augen. „Natürlich. Immer dieser verdammte Paragraph acht.“

Walter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „So ein Schlamassel. Meine Eltern werden mich windelweich prügeln. Los, wir dürfen keine Zeit verlieren, sonst machen wir alles nur noch schlimmer.“ Er setzte sich hastig in Bewegung.

Cord folgte ihm, hielt jedoch inne, als er bemerkte, dass Arnold sich nicht von der Stelle rührte.

„Was ist los?“, fragte Walter. „Worauf wartet ihr?“

„Das frage ich euch“, entgegnete Arnold. „Der Wald liegt in der anderen Richtung.“

Am trotzigen Blick seines Freundes erkannte Cord, dass es Streit geben würde.

„Arnie“, beschwichtigte er, „es ist vorbei. Ich danke dir und Walter für eure Hilfe. Aber es ist vorbei.“

Energisch schüttelte Arnold den Kopf. „Es ist nur vorbei, wenn wir es zulassen. Doch das werden wir nicht. Und wisst ihr weshalb?“

Walter verdrehte die Augen. „Wir haben keine Zeit für deine Dramen. Wir müssen zum Amt.“

Arnold ignorierte Walters Einwand. „Wir werden es nicht zulassen, weil sie uns dann an den Eiern haben. Und zwar für immer.“ Er deutete auf den Eingang in den Wald. „Der Hennemann ist der größte Idiot der Schule. Aber er bückt sich nicht vor dem System.“

„Weil er der größte Idiot ist“, kreischte Walter.

„Nein, weil er in den Spiegel schauen will, ohne sich selbst als ängstlichen Bückling sehen zu müssen. Und ich sage euch: Wenn ihr jetzt einknickt, werdet ihr euch eines Tages die Frage beantworten müssen, wann und warum ihr euch verraten habt. Und der Spiegel wird antworten, dass es dieser Abend war – der Abend, an dem ihr gebrochen wurdet. Und eure Seelen verloren habt.“

Die Worte schwebten in der eisigen Stille und ließen Cord frösteln. Nicht wegen Arnolds Auflehnen gegen die amtliche Anweisung, sondern weil Cord die Wahrheit in ihnen erkannte.

„Arnie, wir können nicht ewig im Wald bleiben. Irgendwann werden wir zurückkehren und uns stellen müssen. Jetzt würden wir vielleicht mit einer Reputationssenkung davonkommen, aber dann …“

„Und wenn schon.“ Arnold fuchtelte mit der Taschenlampe. „Sollen sie mich doch auf Medikamente setzen. Dann schlucke ich ihre Pillen und lächle den ganzen Mist einfach weg. Oder sollen sie mich gleich ins Erziehungslager stecken. Dann kann mich mein Alter wenigsten nicht mehr verprügeln, wenn er besoffen ist. Mir war schon lange klar, dass ich früher oder später mit dem System kollidieren werde. Dann ist eben jetzt der Tag gekommen.“

Cord schluckte. Er hatte vermutet, dass Arnolds Vater Alkoholiker war und gewalttätig wurde, wenn er getrunken hatte. Aber es aus Arnolds Mund zu hören, war etwas anderes. Er wollte etwas sagen, aber alles schien falsch zu klingen.

Arnold reckte das Kinn. „Was ist das für ein Leben, fortlaufend schwachsinnige Verordnungen zu befolgen? Du weißt genau, dass die Ausgangssperre nicht unserem Schutz dient, sondern unsere Unterwerfung demonstriert. Sie unterbinden jedes Aufbegehren, weil sie sich vor einem neuen Protest fürchten. Und das funktioniert nur, weil wir alle gehorchen.“

Er stieß den Fuß auf. „Nicht mehr mit mir. Damit ist Schluss. Ich hab dir versprochen, dein Messer zurückzubringen – und die halbe Schule hat es gehört. Also zieh ich das durch. Meinetwegen auch allein. Verpisst euch und stellt euch, ihr Feiglinge.“

Er deutete auf Cord. „Dein Vater hatte tausendmal mehr Mumm als du.“

Dann drehte er sich um und stapfte davon.

Cord sah ihm nach.

Es stimmte. Sein Vater hatte den Mut gehabt, aus seinen Schlüssen Konsequenzen zu ziehen – und dafür einzustehen.

Walter rüttelte ihn am Ärmel. „Komm schon, der Typ ist doch völlig durchgeknallt. Lass uns keine Zeit mehr verlieren.“

Cord zögerte.

Bis eben war er sich sicher gewesen, dass es das einzig Vernünftige sei, sich zu stellen, um größeren Schaden von sich und seiner Mutter abzuwenden. Zu gehorchen, sich unterzuordnen, so zu handeln, wie man es von einem Bürger erwartete.

Er schluckte.

Nicht alle hatten mitgemacht.

Hör auf dein Herz, war der Rat seines Vaters. Und Cord vernahm klar und deutlich, was es sagte.

Noch hatte er es nicht ausgesprochen, noch nicht wahr werden lassen.

Er holte tief Luft, fasste den Entschluss – und sprach die Worte, die sein Leben aus den Fugen rissen:

„Ich werde das Messer meines Vaters zurückholen.“

Walter schüttelte fassungslos den Kopf.

„Bist du jetzt ebenfalls wahnsinnig geworden?“

Cord sah in den Wald, wo Elrik Hennemann auf ihn wartete.

„Mein Vater hat mir das Messer geschenkt. Und er hat es von seinem Vater erhalten. Deshalb hole ich es mir zurück. Und danach stelle ich mich beim Amt.“

Walter starrte ihn an. „Aber … hast du nicht die Anweisung der Drohnen verstanden?“

Cord trat vor und umarmte ihn. „Geh zum Amt und beeil dich. Du wirst den Reputationsabzug locker wegstecken.“

„Cord, das ist Wahnsinn! Dein Vater hätte nicht gewollt, dass du dich in Gefahr bringst. Denk an deine Mutter! Denk an dein Leben!“

Walter griff nach Cords Arm, wollte ihn zurückhalten – doch Cord schüttelte ihn sanft ab.

Dann klopfte er seinem Freund zum Abschied auf die Schulter.

Und drehte sich um.

Und rannte los.

Arnold wartete am Waldrand.

„Ich wusste es“, sagte er. „Nur wir beide. Los geht’s. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Cord antwortete nicht.

Sie schalteten die Taschenlampen ein.

Die Strahlen schnitten durch die Schatten.

Ohne ein Wort traten sie ein.

Und folgten dem Pfad, der von Schnee und Stille verschluckt wurde.

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